Carlos Schulze-Nowak | toXic 1 | 2024
Weiterhin sehen wir 2 große Arbeiten von Carlos Schulze-Nowak, die digital entstanden sind und digital ausgedruckt wurden. Das gitterartige Muster des linken Bildes steht für mich für systematische Einengung von Bewegung, dagegen wirken die anarchischen Bewegungen der grünen Elemente wie Flucht oder Gegenwehr. Diese Konfrontation ruft für mich die Assoziation der Vergewaltigung der Natur durch unsere industrielle Landwirtschaft auf, mit ihrer Monokultur und ihren Unkrautvernichtungsmitteln. Im rechten Bild könnten bei der angedeuteten weißen Kreuzform in Kombination mit den blutroten Flecken Gedanken an Leid und Qual auftreten, wie sie in der Leidensgeschichte Christi vermittelt werden.
Wie diese beiden Bilder sind in dieser Ausstellung viele Bilder in ihrem Grundcharakter abstrakt, aber wie dieses Beispiel zeigt, heißt das nicht, dass sie nicht doch deutliche Bezüge und Zusammenhänge zu unserer Erlebniswelt aufzeigen – man muss sie nur zu lesen wissen.
Formen und Linien wie auch Farben gewinnen durch die Art der Gestaltung und der Kombination miteinander bestimmte Bedeutungen. Kandinsky, der erste abstrakte Maler am Anfang des vorigen Jahrhunderts, hat das damals beispielhaft erkundet. Ein Beispiel aus seinen Schriften verdeutlicht dies besonders nachvollziehbar. So konstatierte er, dass auf einer Bildfläche, die eigentlich zweidimensional ist, für uns die untere und obere Bildfläche auch räumlich als Unten und Oben empfunden werden: Eine gleich gestaltete, gleich große Form empfinden wir in der oberen Bildhälfte bedrohlich, weil wir sie auffassen als etwas, dass uns auf den Kopf fallen könnte, während dieselbe Form im unteren Bereich des Bildes als unproblematisch empfunden wird. Man könnte sich gewissermaßen drauf stellen, sie beherrschen.
So finden in der Betrachtung der Form- und Farbgestaltung ständig solche Analogien statt – wir versetzen uns in erlebbare Zusammenhänge, das bewirkt die Künstlerin oder der Künstler bereits im Prozess der Gestaltung, bei dem bestimmte Empfindungen in die Gestaltung der Arbeit einfließen, manchmal unbewusst, manchmal bewusst auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet und so wirkt sich das auch auf den Betrachter aus, da wir alle in unserem Kulturkreis nahezu gleiche Grunderfahrungen machen bzw. erlebt haben und somit die Sprache der Kunst besser verstehen und deuten können, als wir manchmal denken.
Georg Hoppenstedt | toxisch | 2017
Ich darf das konkret noch mal an meiner Arbeit verdeutlichen. Ich glaube, dass mir die Ausdruckswirkung mehr unterlaufen ist, als dass ich direkt etwas gefährlich Wirkendes machen wollte. Ich wollte hier primär schnelle Bewegungsabläufe sichtbar machen – nichts ist schneller, als die gerade Linie, die direkte Verbindung zwischen zwei Punkten (s. Kandinsky).
Noch dynamischer wirkt diese Bewegung, wenn sie parallel geführt wird und so geriet ich in einen Ausdeutungsprozess, pfeilartige Spitzen verstärken den Eindruck, bringen aber auch den Gedanken einer Gefährdung mit ein. Abzweigungen und Knicke der linearen Bewegung lassen das Gefühl einer nicht beherrschbaren Attacke aufkommen. Die Farbgebung erzeugt ein Übriges, diese schwefelgelben Linien wirken wie mit Säure oder Gift gefüllte Schläuche oder gar Adern. Gesteigert wird das durch Farbkulminationen an einigen Stellen, wo das Gelb in Blau umschlägt, was wie Entzündungsherde wirkt. Von Inflammation spricht da der Mediziner und meint damit die Gefahr einer blitzschnellen Ausbreitung der Entzündung. Ich selber war von der Wirkung dieses Bildes recht betroffen und ich glaube, dass diese Deutung schnell nachempfunden werden kann.
Leena Krüger | mitten ins Herz… II | 2024
So sehe ich das auch bei den anderen
„Abstrakten“, in Anführungszeichen, deutlich werden, so hat Leena Krüger ebenfalls spitze, gefährlich wirkende Formen zu Hauptakteuren in ihren 3 Bildern gemacht, dazu eine grau-blaue Farbigkeit, die keine Wohlgefälligkeit vermittelt.
Gudrun Jockers | Wo aber gehen wir hin | 2024
Gudrun Jockers hat ein Bild eingebracht, in dem horizontal und vertikal gesetzte Formen ein weiteres Vordringen in den Bildraum, der dem Lebensraum zu entsprechen scheint, kaum möglich macht. Sie stellt dazu die Frage:
„Was nun?“ Zu einem weiteren Bild, mit labyrinthischen Linienbewegungen, die wie Spuren einer gescheiterten Suche nach dem richtigen Weg wirken, stellt sie die Frage:
„Wo aber gehen wir hin?“ Hier tut sich eine existentielle Not von vergiftender Ausweglosigkeit auf, von einer kafkaesken Dimension.
Erhart Schröter | Chaotische Zeiten | 2024
Daneben finden wir 2 große Arbeiten von Erhart Schröter, die in digitaler Bearbeitung entstanden sind, aus anderen Bildsequenzen zusammengesetzt und mit letzten Pinselstrichen per Hand gesteigert wurden. Seine stark-dynamische Bildsprache reißt den Betrachter mit in ein heftiges Geschehen. Im linken Bild in einen großen Wirbel, in dem Spuren von menschlichen Figuren zu sehen sind, die hier durcheinander gewirbelt werden. Im Hochformat des zweiten Bildes entsteht ein Raum, der durch eine extrem gesteigerte Sicht aufgerissen wird und der an Piranesis
„Carceri“ erinnert, in denen das Ausgeliefertsein an eine ominöse beherrschende Macht in der Bildgestalt spürbar gemacht wurde.
Hilke Diers | o. T. | 2024
>Hilke Diers arbeitet In ihrer minimalistischen Kunstauffassung gern mit industriell gefertigten Materialien, hier 3 weiße Styroporplatten, die ihr als Bildgrund dienen für eine Gestaltung nur mit schwarzer Kohle und Pastell, bei der die Fläche grob in einen weißen Bereich geteilt ist, der nicht bearbeitet wurde und den schwarz bearbeiteten Bereich. Seltsamer Weise ist dabei ein drittes Element entstanden, wie von Geisterhand, nicht geplant und nicht verhindert, bei der Strenge der Konzeption vielleicht beunruhigend: Beim Prozess der Arbeit haben sich Schleier vom Abrieb der schwarzen Kohle auf dem ungestalteten weißen Grund gebildet.
Charlotte Geister | Bei Frauen ist das doch was anderes | 2024
Ebenfalls konzeptuell ist die ganz anders geartete Arbeit von Charlotte Geister zu verstehen. Die Wiedergabe von frauenfeindlichen Sprüchen auf Bierdeckeln hat hier deutlich die Urheber entlarvt und damit hat die geistreiche Replik die Lacher auf ihrer Seite.
Christel Irmscher | ‚erlaubt - entlaubt’ | 2024
Diana Janecke | welcome too late | 2024
Matthias Walliser | Das Notizbuch der erfüllten Träume | 2024
Ebenfalls konzeptuell und dabei von schlagender Deutlichkeit, die Arbeiten von Christel Irmscher, Diana Janecke und Matthias Walliser.
Leider kann nicht auf alle Arbeiten im Einzelnen eingegangen werden, weil der Rahmen für eine solche Einführung sonst überschritten würde. Generell sollte gelten, dass man die Eigenarten der Künstlerinnen und Künstler verstehen und würdigen muss, um ihrem Werk nahe zu kommen und etwas für den eigenen Nutzen mitnehmen zu können.
Erhard Joseph, o. T. | (Lieber schön als giftig) | 2023
Ich möchte daher zum Schluss noch unseren Kollegen Erhard Joseph zu Wort kommen lassen: Für ihn entspringt
„seine künstlerische Haltung seiner tiefen Sehnsucht nach Schönheit und Sinnhaftigkeit“. Er lässt sich dabei auch nicht von der Thematik dieser Gruppenausstellung beeinflussen und demonstriert seine Einstellung mit einem Kommentar auf der Wand neben seinem Bild:
„Lieber schön als giftig“.
Georg Hoppenstedt, Göttingen, 28. September 2024
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