
Das Jahr geht zu Ende und überall wird Bilanz gezogen, voraus- aber auch zurückgeblickt und so geschieht es auch hier in der jährlich stattfindenden Ausstellung des Bundes Bildender Künstler.
26 Künstlerinnen und Künstler zeigen Arbeiten des letzten Jahres, stellen ihre künstlerischen Positionen zur Debatte und geben damit auch ein Stück weit ihre Sicht auf die Welt preis.
Aber was heißt das eigentlich - ihre Sicht auf die Welt?
Menschen nehmen auf ganz unterschiedliche Weise die Welt und die Dinge um sich herum wahr. Schon das rein visuelle Sehen erfolgt bei jedem von uns sehr verschieden mal oberflächlich alles schnell überfliegend, dann wieder genau forschend und bis ins Detail sorgfältig betrachtend.
Dabei ist das Visuelle Erfassen nur eine Ebene, parallel dazu findet ein emotionaler, persönlicher Prozess statt, der, - bewusst ergriffen bei Künstlern- oft so intensiv sein kann, dass sie aus diesem Erleben heraus beginnen zu arbeiten, um schließlich Werke zu erschaffen.
Die innere Grundhaltung ist in diesem Fall oft eine suchende Bewegung, ja generell eher ein Erahnen, ein Forschen und Suchen. Während die meisten Menschen in erster Linie die Dinge vor allem in ihrer Begrifflichkeit: Tisch, Bett, Blume etc. wahrnehmen und so schnell ein fertiges, sicheres Szenario aufbauen, richtet sich der Blick eines Künstlers unter Umständen auf die Oberfläche eines Gegenstands mit seiner Haptik, auf Farbzusammenstellungen und -kontraste oder er entdeckt etwas ganz Neues; Ungewohntes, Fremdes im längst Bekannten und eventuell recht Banalen.
Um ein einfaches Beispiel zu geben.:
Im letzten Urlaub standen wir erhöht auf dem Boulevard mit einem wundervollen Panoramablick auf die Pyrenäen, der von unzähligen Handys der Touristen aufgenommen wurde. Ein schöner, aber vielleicht zu schöner Anblick. Während dessen fotografierte mein Mann eine Stahlleiter mit Schatten und hineinragenden Verkehrsschildern von oben: ein ungewohnter Blick, wo diese eigentlich banalen Dinge fremd und verrätselt wirken und eine neue ganz eigenwillige Existenz zu gewiesen bekommen. Dies blieb aber weit gehend unbeachtet von allen anderen.
Und sicher kennen sie alle die Geschichte wie Leonardo da Vinci auf alten Mauern mit ihren Flecken und Rissen, Szenen und ganze Bilder erkennen konnte – ähnlich wie wir dies in unserer Kindheit bei Wolkenbildern getan haben.
So wird das Banale und Alltägliche zu einer Quelle der Inspiration, weil das Auge des Künstlers neue Figuren und neue Geschichten in den zufälligen Strukturen entdeckt. Fantasie und Kreativität werden beflügelt.
Auch ein innerer Blick, eine innere Schau kann oft Motor der künstlerischen Arbeit sein: ein Empfinden, eine innere Vorstellung, ein Sehen wie eine Stimmung, ein Motiv gestaltet sein sollte, ja gestaltet sein muss, damit sie,- der Betrachter, -der mit dem ganz anderen Blick- zu einem neuen Seh-Erlebnis kommt.
Bestimmt und gespeist werden der Blick des Künstlers von eigenen prägenden Erfahrungen und seelischen Eindrücken, aber auch Überlegungen und Analysen zu seinen momentanen Themen, die durch ihn ihre eigene, besondere Ausprägung bekommen. Immer geht es aber um die Suche nach einem frischen, ungewohnten und staunenswerten Neuen Erleben und Bilder Sehen.
Da wir heute alle mehr denn je mit Bildern überschwemmt werden, - mit Bildern, die im Minutentakt von anderen abgelöst werden, die voll von Klischees und zig Mal wiederholten Bildeinstellungen sind, braucht es Entdecker- und Erfindergeist und die Möglichkeit sich selbst ein Stück weit zu vergessen, um mit Wachheit nach Innen wie nach Außen unvoreingenommen und frisch schauen zu können.
Bin ich an diesem Punkt angekommen und habe eine innere Vorstellung, ein inneres Bild von dem, was ich darstellen will und was es vermitteln soll, dann stellt sich die entscheidende Frage, welche Form kann, muss ich wählen, damit auch SIE, die Betrachter teilhaben können an meinem Blick.
Aber ist das überhaupt möglich, ja ist es überhaupt nötig??
Denn eben haben wir ja festgestellt, dass jeder Mensch in seiner Wahrnehmung von seinen eigenen, sehr persönlichen Erfahrungen und inneren wie äußeren Erlebnissen geprägt ist. Wenn es wirklich so ist, dass all das, was wir sehen nicht nur der Spiegel der äußeren Welt ist, sondern unwiderruflich mit unserer inneren Welt verknüpft ist, wie finden Sie bzw. wir als Betrachter einen Zugang zu Werken, die uns hier umgeben?
Da hilft meines Erachtens nur eines:
Sich in die Haltung eines Entdeckers zu begeben, eines Suchenden und sich – und das ist mindestens genauso wichtig,- sich vor allem Zeit zu nehmen.
Am besten auch alle „Kunsterwartungen“, festen Begrifflichkeiten und gewohnten Bildeinstellungen zu vergessen und vor den Arbeiten still zu werden. Einfach mal Ungewohntes zu zulassen und das ein oder andere Rätsel (was soll das denn jetzt sein???) einfach stehen zu lassen und in sich arbeiten zu lassen.
Überhaupt: Fragen und Rätsel- Nichts beschäftigt einen mehr, als wenn man sich nicht sicher ist, es natürlich sehr gerne wäre, denn dann fühlt man sich gleich viel wohler. Dann kann man zum Beispiel dieses merkwürdige Bild vergessen und zur Tagesordnung übergehen, zu den gewohnten, ewig gleichen Bildeinstellungen, in denen alles klar definiert und sofort einzuordnen ist – aber eben auch ziemlich langweilig und schnell wieder vergessen ist.
Deshalb nun zum Schluss meiner Ausführung ein Aufruf für alle hier Anwesenden: Machen sie sich auf zum Lustvollen Betrachten und Entdecken des Unbekannten, des Merkwürdigen und des Fremden.
Nutzen sie die einmalige Chance in dieser Jahresausstellung mit 26 unt erschiedlichen Blickwinkeln und werden Sie zum Entdecker, seien sie sich nicht sicher und lassen sie sich unvoreingenommen auf Neuland ein!
Oder um die amerikanische Autorin Siri Hustvedt zu zitieren: Den Überblick zu verlieren ist eine intellektuelle Tugend!
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen spannenden Forscherabend!
Charlotte Geister
November 2025